Zwischen dem Zeitpunkt, in dem eine letzwillige Verfügung errichtet wurde, und dem Erbfall können mehrere Jahre vergehen und sich die Umstände entscheidend ändern. Daher wird durch die ergänzende Testamentsauslegung ermittelt, was nach der Willensrichtung des Erblassers im Zeitpunkt der Testamentserrichtung als von ihm gewollt anzusehen sein würde, sofern er vorausschauend die spätere Entwicklung bedacht hätte. Dass dieser Umstand bei jüdischen Erblassern zur Zeit des Nationalsozialismus eine besondere Brisanz beinhaltet, beweist der folgende Fall des Oberlandesgerichts Karlsruhe (OLG).

Ein jüdischer Kunstsammler errichtete im Mai 1939 ein Testament, in dem er seinen damals in Breslau wohnhaften Neffen zum Alleinerben bestimmte. Im Juli 1939 ergänzte er sein Testament um folgenden Zusatz: "Da mein Neffe nach New York ausgewandert ist, bestimme ich zu meinem Alleinerben meine Schwester. Sollte diese nicht mehr am Leben sein, so soll mein Vermögen an die J. Gemeinde übergehen zur Unterstützung hilfsbedürftiger Juden." Die Schwester verstarb jedoch im November 1939, der Erblasser selbst im Juli 1940. Sein von ihm bestimmter jüdischer Testamentsvollstrecker wurde festgenommen und in ein Internierungslager verschleppt. Das Nachlassgericht bestimmte daraufhin einen Nachlasspfleger, der im Mai 1941 eine Einverständniserklärung abgab, wonach die Kunstgegenstände als Stiftung in das Eigentum des Badischen Staats übergehen sollten. Die Nachkommen des zwischenzeitlich in New York verstorbenen Neffen machten 2017 im Zusammenhang mit einem Verfahren zur Rückgabe der Kunstsammlung an die rechtmäßigen Erben geltend, dass der Nachtrag zum Testament nichtig sei. Denn dieser Nachtrag beruhe darauf, dass es unter den Nationalsozialisten für den Neffen von den USA aus unmöglich gewesen sei, den Besitz der Erbschaft zu erlangen. Daher seien sie als Nachkommen die rechtmäßigen Erben.

Das OLG gab den Nachkommen Recht. Es ging davon aus, dass der Neffe Erbe seines Onkels wurde, da der Nachtrag von Juli 1939 von der Vorstellung geleitet war, dass der Neffe wegen der weitgehenden rechtlichen Diskriminierung von Juden im Jahr 1939 nach seiner Emigration nicht in den Genuss der Erbschaft kommen könne. Im Wege der ergänzenden Auslegung kam das Gericht daher zu dem Schluss, dass der Erblasser den Nachtrag nicht verfasst hätte, wenn ihm klar gewesen wäre, dass diese diskriminierenden Regelungen wenige Jahre nach seinem Tod durch den Zusammenbruch des NS-Regimes hinfällig wurden. Dass die Erbeinsetzung seines Neffen für diesen Fall dem Willen des Erblassers entspricht, ergibt sich aus der Begründung des Nachtrags mit der Auswanderung seines Neffen nach New York.

Hinweis: Dieser besondere Fall zeigt, dass eine ergänzende Testamentsauslegung auch bei klaren Formulierungen im Testament zu einer Berichtigung der Erbfolge führen kann, wenn sich aus den damaligen Umständen ein gegenteiliger Erblasserwille ergibt. Für eine ergänzende Testamentsauslegung ist erforderlich, dass die letztwillige Verfügung des Erblassers eine ungewollte Regelungslücke aufweist. Eine solche liegt vor, wenn ein bestimmter, tatsächlich eingetretener Fall vom Erblasser nicht bedacht und deshalb nicht geregelt wurde, aber geregelt worden wäre, wenn der Erblasser ihn hätte bedenken können.


Quelle: OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.09.2019 - 11 W 114/17 (Wx)
zum Thema: Erbrecht

(aus: Ausgabe 12/2019)